Werkmappe
60 Jahre
Text: Eduard Joos und Ulrich Meister
mit Beiträgen von
Paul Nizon
Karin und Erwin Beyeler
Erich Brändle
Walter Flückiger
Hannes Gnädinger
Markus Gnädinger
Peter Herbrich
Bea Joos-Müller
Urs Kick
Ueli Luginbühl
Daisy Sigerist
Kathrin Wüscher
Simone Wüscher-Ineichen
Fotografie und Druckvorstufe: Manfred Dubach
Schaffhausen, 8. August 2004
© Edition Wendel Oberli
Bernhard Wüscher zum Sechzigsten
Bernhard Wüscher ist eine Kraftnatur; und ein Vollblutmaler; allerdings von Selbsthinterfragung aufgewühlt, von allen Teufeln eines modernen Bewusstseins geritten und natürlich von den Anfechtungen der Postmoderne heimgesucht. Von solcher Widersprüchlichkeit lebt seine Kunst:
die von einer weltumfangenden Gebärde und menschlicher Nächsteneugier nicht ablassen kann, wiewohl sich vom Hirn her die sogenannte Wirklichkeit dem künstlerischen Zugriff nicht nur zu verwehren scheint, sondern insgesamt katastrophal zu zerbersten droht.
Von diesem Konflikt handeln die hier vorgeführten Etappen eines langen Anmarsches zu einem Werk, das die Zerquältheit kennt, aber ebenso das runde Glück des Gelingens. Es trägt das Stima des Authentischen und atmet bisweilen etwas Überwältigendes. Die angesprochenen Etappen lassen sich als einen inneren Dialog zur Frage „Leben oder Kunst“ lesen.
Der einstige Weltenbummler, Frontinspizient und Ex-Berliner, nach langem Umgetriebensein für die Sesshaftigkeit im angestammten Schaffhausen optierend, hat – zu seinem sechzigsten Lebensjahr sei es vermerkt – nie resigniert, tapfer gewütet und letztenendes wie der listenreiche Odysseus „heim“ gefunden.
Paul Nizon, Paris
Ein malender Lehrer in Filzbach
Der Wunsch, Maler zu sein, war heimlich schon lange wach – und hat subversiv gewirkt. Nach der Matur in Schaffhausen (1964) schien das Architekturstudium an der ETH in Zürich das Schöpferische und ein berufliches Interesse am besten zu vereinen. Ein "blanker Irrtum", sagt Wüscher später. Der Irrtum dauerte zwei Semester. Durch ein "rechnerisches" Studium zu sehr geplagt, flüchtete er sich in Gelegenheitsjobs auf dem "Bau". Das war – weder für ihn, noch für das Elternhaus – eine Lösung. Hals über Kopf entschied er sich für das Oberseminar: Lehrer war ein anerkannter Brotberuf. Und hätte auch eine Berufung sein können: Wüscher ist auch ein Pädagoge. Dieses Jahr war seine "beste" Schulzeit.
Da mit dem Kanton Glarus ein sogenanntes Konkordat bestand, ergab sich 1967 die erste Stelle in Filzbach auf dem Kerenzerberg über dem schwarzen Walensee, wo sonst niemand hinwollte. Da entdeckte Wüscher das "Schwändeli", ein schütteres Bergbauernhäuschen ohne fliessendes Wasser. Ideal zum Malen und für Distanz zur Schule und eigenen Welt der Glarnerbergler. Das Bild "Atelier Schwändeli" legt Zeugnis ab für den Maldruck, der bereits übermächtig war. Atelierbilder sind immer Selbstzeugnisse.
Freunde, Freundinnen und Mäuse gaben sich Stelldichein im "Schwändeli". Die Katze "Victor Hugo" wurde letzterer nicht Herr. Aber viel war, unter tiefem Schnee, auch Einsamkeit und Psychotherapie für sich selbst und einige Freunde.
UM
Kunstmaler werden
In Filzbach war Bernhard Wüscher vor allem einmal Lehrer. Als Künstler wurde er nicht geboren. Im Gegenteil, er gehört einer sehr bürgerlichen Schaffhauser Familie an, die ursprünglich im zünftischen Leder- und Gerbereigewerbe gross geworden ist. Sein Vater ist Rektor des Gymnasiums und gilt als Stütze der Gesellschaft, auch die Mutter hält auf verlässliche Tradition und Rechtschaffenheit.
Noch vor der Zeit in Filzbach ist Lehrerseminarist Bernhard in eine heftige sexuelle Beziehung zur verheirateten, aber verlassenen Silvy verwickelt, für die Familie ein Ärgernis. Silvy ist aber nicht nur erotisch anregend, sie bringt Bernhard Wüscher u.a. auch mit dem Kunstmaler Carl Roesch in Diessenhofen in Kontakt. Die halb verheimlichte, überwältigende Beziehung zu Silvy hat Folgen. Die Geburt der gemeinsamen Tochter Katja bleibt in Schaffhausen nur so lange ein Geheimnis, bis die Zivilstandsnachrichten veröffentlicht werden. Das väterliche Telegramm: Heimkommen, es gibt etwas zu besprechen! erreicht Junglehrer Bernhard Wüscher im abgelegenen Dorf Filzbach.
Silvy will die Heirat, ausgerechnet sie, die Bernhard vorgeworfen hat, er könnte Kunstmaler werden, wenn er nicht so bünzlig wäre. Zur Heirat kommt es nicht, aber zum Entscheid, Kunstmaler zu werden. In einer einsamen Silvesternacht ob Filzbach fällt der Entschluss, aus der in Verzweiflung geborenen Nebenher-Malerei den Beruf zu machen. Im kommenden Jahr 1967 reist Bernhard Wüscher zum Malen nach Almuñecar. Ein erster Schritt aus der Schaffhauser und Schweizer Enge war getan.
EJ
Übertreibungen jetzt – Bändigung später
Die Bilder aus Filzbach überzeugen durch einen starken angestrengten Form- und Farbwillen. Sowohl die Landschaft, wie der persönliche Lebensraum waren für Bernhard Wüscher Kontraste. Gewünscht und erlitten für die malerische Selbstverwirklichung. Die Aussenansicht sollte einer Innensicht entsprechen, die Innensicht suchte eine Aussenansicht – ein Kampf um Vitales, dem diese Umgebung fast dramatisch entsprach. Eine Herausforderung also. Das Bild "Im Glarnerland" zeugt von einem Versuch der Bändigung (für später) und der Übertreibung (für jetzt).
Es gibt auch eine fast harmonische Darstellung eines Blütenzweiges, gefasst in Blau-Weiss, aus dieser Epoche, in der sowohl das Weisse, wie das Blaue zu explodieren drohen, aber sich gegenseitig unter Kontrolle halten. Formales Aushalten oder gar Erzwingen ist die existenzielle Devise des malerischen Aktes, denn weder ist das Motiv gesichert, noch die eigene Persönlichkeit.
Filzbach war das erste Malerei-Wagnis. Ehrlich, sucherisch, den Konflikt nach aussen treibend.
Den glarnerischen Kollegen aus dem Oberseminar, Mathias Wild, bereits Kunstmaler, traf Bernhard Wüscher öfters im Bahnhofbuffet von Ziegelbrücke. Sie beschlossen bald, zu verreisen. Wüscher holte Wild in dessen Basler Atelier-Loch mit seinem alten VW-Käfer ab. Destination Almuñecar/Spanien.
UM
Almuñecar – der Ausbruch
Eher ziellos fanden Wüscher und Wild Almuñecar. Das damals noch kaum touristische Fischerdorf in Andalusien brachte die Befreiung vom "Bürgerzeug", von der familiären und beruflichen Krise und dem künstlerischen Engpass. Bernhard Wüscher konnte erstmals "ein eigenes Leben führen". Mit Mathias Wild, der bald wieder abreiste, bezog er eine kleine Wohnung am Paseo Marítimo, direkt am Meer. Die ständige Horizontale von Wasser und Himmel war das Neue.
Der nunmehr "unverstellte Blick" führte gleich in erste freie Abstraktionsversuche. Der Maler löste sich vom Gegenständlichen und Landschaftlichen. Neue Farben hielten Einzug: das Blau mit seiner Doppelfunktion für die zwei jetzt mehr symbolischen Elemente Wasser und Himmel. Auch die Erde war nunmehr anders präsent. "Licht, Luft und Weite" war eine bleibende Erfahrung. Die Abstraktion verwies auf einen inneren "Süden".
Ausritte mit dem eigenen Pferd führten ins trockene arme Hinterland. Andere Reisen ins Herz der andalusischen Kultur: Málaga, Ronda, Jérez de la Frontera, Sevilla. Die Fería von Sevilla erschlug – ich war mit dabei – zwei Schweizer durch ihre Vornehmheit und Ferve. Der Flamenco – Verwandtschaft im Vitalen - beeindruckte Wüscher tief. Ein vom Zigeuner erlerntes anonymes traditionelles Gitarren-Solo blieb ein musikalisches Signet noch für manche Jahre.
Erst viel später entdeckte der Maler, dass früher einmal Varlin den Friedhof von Almuñecar gemalt hatte.
UM
Das Blau des Meeres von Almuñecar
„Es ist nun wieder einmal an der Zeit, dass ich Euch ein wenig berichte, wie es mir hier in Südspanien ergeht. Summa summarum: sehr gut.
Ich bin nun schon sehr in der Arbeit drin. Ich merke eigentlich erst jetzt, wie faszinierend das Malen überhaupt ist. Solange man es nur „nebenamtlich“ betreibt, kommt man einfach nie so tief in die Materie hinein. Zu einer Vertiefung in die Probleme des Bildes und des Malvorganges hilft mir sehr viel das Gespräch mit Mathias Wild. Es braucht oft gar keine grossen Worte vom andern, oft genügt ein kleiner Hinweis zu dem, was man soeben gemalt hat, und man sieht sofort die Möglichkeiten zur Weiterbearbeitung.
Ich habe jetzt nicht wie vorgesehen mit den gespachtelten Bildern weitergemalt, sondern ich arbeite jetzt mit der ziemlich stark verdünnten Farbe. Auf diese Weise ergeben sich für mich ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten. Ich habe jetzt vor mir auf der Staffelei eine ganz blaue Leinwand, auf der sich nur die Helligkeitswerte (ein dunkles und ein helles Zentrum) unterscheiden. Die Übergänge sind dabei nicht starr, sondern fliessend, was maltechnisch gar nicht so einfach zu lösen ist. Durch dieses sanfte Ineinanderfliessen der verschiedenen Töne entsteht eine merkwürdig starke Bewegung im Bild, ohne dass eigentlich viel geschieht.“
(Aus einem Brief von Bernhard Wüscher an die Eltern. Almuñecar 11. Dezember 1969)
Hannes Gnädinger über Bernhard Wüscher
Bernhard Wüscher und ich sind fast auf den Tag gleich alt, waren in der Jugendzeit Nachbarn, haben gemeinsam Schulen besucht und zusammen das Architekturstudium begonnen. Bernhard hat dieses Studium im 3. Semester abgebrochen, nicht um aus einer Laune heraus einen Abstecher in die Kunstszene zu machen, sondern um sich – nach der Ausbildung zum Primarlehrer – ganz der Kunst zu widmen.
Fasziniert von Künstler und Werk habe ich 1969 das erste Bild von Bernhard gekauft. Das Bild habe ich – damals finanziell nicht auf Rosen gebettet – in monatlichen Raten abgestottert. Ich erkannte anderseits rasch, dass das grösste Problem für einen Künstler das Überleben im ureigensten Sinn des Wortes war.
Aus dieser Erkenntnis heraus und weil ich spürte, dass die Werke von Bernhard ständig reifer, persönlicher, engagierter und konsequenter wurden, bin ich – ohne es ursprünglich zu wollen – zum Sammler seiner Bilder geworden. Es wurde mir ein Anliegen, ihn auch im Rahmen meiner jeweiligen Möglichkeiten anderweitig zu unterstützen, etwa durch gemeinsame Reisen oder lebensnahe Tauschgeschäfte: Bilder gegen Auto, Autoreparaturen, Ateliermiete, usw.
Es ist interessant zu verfolgen, wie sehr Bernhard Wüschers Werke uns die jeweiligen Stationen seines Lebens mit ihren Höhen und Tiefen miterleben lassen. Es sind Werke, die das Suchende, Schöpferische, Kämpferische bis hin zum Inspirierenden, Ruhenden und Geniessenden zum Ausdruck bringen. Sie sind tiefgründig und kräftig und ziehen den Betrachter in Bann.
Hannes Gnädinger
Hegibachstrasse Zürich – ein Übergang
Der Kontrast nach der Rückkehr aus Andalusien hätte nicht grösser sein können. Die Hegibachstrasse 104 war eine Studentenwohnung (zu dritt), aber eine gepflegte in einer bürgerlichen Umgebung mit strengem Waschküchenkalender. Wie da malen auf Spannteppichen? Die Feldstaffelei in der Küche war nur wenige Male ein Behelf für Ölbilder. Aber die kulturelle und intellektuelle Umgebung – und ein Balkon, der sommers den "Patio" ersetzte – wirkte anregend. Tusch, gerautes Papier und am Bürkliplatz mit dem Velosolex selbst gesuchte Schwanenfedern ermöglichten saubere Kritzeleien mit erstaunlichen Evolutionen. Wüscher begann, "automatisch" zu zeichnen, mischte kantige und wurmartige Gebilde mit Strich- und Carrétechnik.
"Ich wurde fanatisch", erinnert er sich, "ich hatte etwas entdeckt". Vom Noch-Abmalen ins Umgekehrte. Mit der Beschränkung auf eine Kleintechnik schuf er sich erstmals eine eigene Formsprache, erfand er sein Alphabet. Er musste es später – im "Blaurock" - nur noch malerisch und gross umsetzen.
Zürich war damals nach dem Mai 1968, spannungsgeladen, voll Austausch und Debatten, Theaterereignissen. Man nahm ideologisch daran teil, wie man wollte, aber vergass keineswegs das Epikureische. Persönliche Umstände zwangen zur Aufhebung der tiefsinnigen und lustvollen, aber letztlich provisorischen Angenehmheit ("Wir wollten gemeinsam etwas werden"). Sie hätte sich so oder so nicht fortsetzen lassen.
UM
Kunst und Freundschaft
Beim Kauf des Grossen Wurmbildes lernte ich einen Menschen und Künstler kennen. Aus der Begegnung hat sich eine der seltenen Freundschaften entwickelt, die ein Leben anhält.
Die frei gewählte Lebensform von Bümp hat mich immer beeindruckt. Ihm war nie ein Problem, mit einfachsten Mitteln auszukommen. Wichtig war ihm, dem Leben in all seinen Höhen und Tiefen zu begegnen. Die Neugier, die Kreativität und das Malen von Bildern in immer neuem Stil hatte Priorität, der alles untergeordnet war.
Viele Bilder habe ich entstehen sehen, die meisten Ateliers gekannt: Riet, Quaistrasse, Mailand, Belair und Krummgasse sind mir bestens vertraut und mit vielen Erinnerungen verbunden. Mit dem Einzug ins Atelier Belair in den 70er-Jahren änderte sich einiges. Er renovierte die Räume, in denen anfänglich noch Militär logierten, er wurde sesshaft und lernte Simone Ineichen kennen. Sie und das Belair wurden nun immer mehr zum Mittelpunkt seines Lebens.
Besondere Freude bereitete mir die Mithilfe bei der Planung der Ausstellungen bis hin zum Aufhängen der Bilder. Die Ausstellung in der Galerie an der Stadthausgasse (Restaurant Bergmann) war der Beginn dieser Zusammenarbeit. Der Höhepunkt für uns alle, die jeweils mitreisten, war die grossartige Ausstellung in New York.
Die lange Freundschaft mit Bümp und Simone, in die auch meine damalige Freundin und jetzige Frau Christa einbezogen ist, führte dazu, dass Christa die Gotte von Kathrin wurde. Diese gemeinsame Verbindung bereitet uns allen viel Freude.
Walter Flückiger (Fluck)
Fluck und das Grosse Wurmbild
Bernhard Wüscher reichte das Grosse Wurmbild für die Schaffhauser Weihnachtsausstellung 1969 ein. Es wurde mit zwei ähnlichen Werken angenommen und der Öffentlichkeit präsentiert. Eines wurde vom Museum zu Allerheiligen angekauft – ein früher Erfolg und eine wichtige Ermunterung.
Entstanden ist dieses erste grossformatige „Bild“ , so war es beschriftet, 1969 in Hemishofen. Die mit prallem Leben gefüllten Würmer wubbern sich durch die Bildwelt, gleichzeitig daran erinnernd, dass die heile Welt vom Gewürm unterwandert wird und diese Unterwelt dabei ganz gut gedeiht.
Das „Bild“ hat viele Betrachter magisch angezogen, aber einer sah es später beim ersten Besuch im Atelier Riet und wusste sofort, dass er es haben musste: Walter Flückiger („Fluck“), damals einfacher Andrucker, beschloss auf der Stelle, das Wurmbild zu erwerben. Keinem der Beteiligten ist bis heute klar, wieso ausgerechnet dieser Besucher gerade diesem Bild verfiel. Fluck war weder besonders kunstbeflissen, noch verfügte er über die nötigen 1800 Franken. Dass der Maler das Geld brauchte, war ihm klar, er wollte ihn nicht durch ein Abzahlungsgeschäft hinhalten. Das Faszinosum war aber so stark, dass er, um sich in Besitz des originellen Unikats zu setzen, einen Kredit aufnahm, den er dann mühsam von seinem bescheidenen Einkommen abzustottern hatte.
Das Wurmbild hat Fluck seit damals durch alle seine Wohnungen begleitet, und aus der heftigen Begegnung mit der Kunst und dem Künstler Bernhard Wüscher ist eine lebenslange Freundschaft geworden.
EJ
Wurmvariationen im Blaurock
Ein Atelier für grosse Ölbilder war nötig. Nach einem Zwischenspiel in Hemishofen SH bezog Bernhard Wüscher den ersten Stock der Jugendstil-Villa "Schmid" an der Blaurockstrasse in Stein am Rhein unterhalb des Schlosses Hohenklingen. Es war ein nobler, leicht heruntergekommener Sitz. Das verblichene Grossbürgerliche wirkte ohne den früheren Luxus inspirierend. Das grosse "Wurmbild" wurde hier beendet und unzählige andere Wurmbilder auch.
Drei von ihnen wurden bereits im Winter 1969 an der Weihnachtsausstellung des Schaffhauser Kunstvereins im Museum zu Allerheiligen gezeigt. Die Wirkung war gewaltig. Wüscher wurde jetzt auch "für eine Öffentlichkeit zum Künstler". Abwandlungen des Themas mit Alu-Collagen zeigte Wüscher dann im August 1970 in Ramsen.
Ich kann mich an die letztlich ironisch wirkende Penetranz der Würmer – man sprach ständig über sie ! – gut erinnern (und konnte ihr auch nicht entgehen, da ich im Erdgeschoss der Villa wohnte). Sie standen für die biologische und triebhafte Seite des Lebens, sowohl im Positiven wie im Negativen. Da sie sowohl voluminös sein konnten, als auch mehr graphisch (wie in Ramsen), war ihre spätere Kombination mit Kuben bereits vorbereitet. Wüscher spürte im Nachhinein, dass er zwischen Francis Bacon – dem morbid-schönen Verderben - und Mark Rothko – der ästhetisch geordneten Fläche und Farbe – schwankte, den Ausgleich suchte.
UM
Berlin – Moritzplatz
Warum eigentlich Berlin? Die Villa Blaurock in Stein am Rhein ist doch eine Maler-Idylle. Vielleicht gerade darum. Die Angst vor dem Verbürgerlichen in der Provinz. Eine Grossstadt deutscher Sprache soll es sein, warum nicht die West-Retorte inmitten der feindlichen DDR, der spannungsgeladene Nabel des Weltgegensatzes Ost-West?
Der Berliner Korrespondent des Schaffhauser Lokalblattes ist Anlaufstelle, die Ateliersuche beginnt. Ein Lithograf gibt einen Raum frei am Moritzplatz, Wüscher zieht bei beissender Winterkälte ein, das Malen beginnt. Es gelingt auf Anhieb, eine der produktivsten Perioden beginnt, im Nu entstehen 80 Bilder. Die Einsamkeit führt zu einer Konzentration auf das Wesentliche.
Der Abgeschiedenheit folgen inszenierte extreme Abstürze. Die Künstlerkneipen werden abgeklappert. Bernhard Wüscher lässt sich ein auf neue Personen, Situationen, Themen. Will dazugehören, mischt sich ein, ist rasch dabei. Einer der spontanen Kontakte in der „Schöneberger Weltlaterne“ gilt Peter Decker, die Freundschaft wird ein Leben lang anhalten.
Auf das „In-die-Welt-Hinuntersteigen“ folgt die Läuterung durch das Malen, der Aufstieg in die Höhe der Kunst. Der anfänglich einsame Auf- und Abstieg wird bald einmal begleitet durch Teufelinnen und Engel. Nicht zufällig enthalten die entstehenden Bilder einerseits kühle griechische Versatzstücke vor himmlischem Blau, anderseits fleischliche Farbpflanzen, gefüllt mit prallem Leben. Das polarisierte Leben in ein harmonisches Rund zu fügen ist noch kein Lebensziel.
EJ
Rausch und Ernst im Blaurock
Zurück im Blaurock mit achtzig Bildern aus der ersten Berliner-Zeit. Die Spannung zwischen der grossstädtischen Brutalität und der kontroversen Heimat sollte sich jahrelang als fruchtbar erweisen. Die Krise der Kreativität – die Katastrophe der leeren Leinwand – konnte überwunden werden. Das wurde langsam zu einer in sich selbst kreativen Gewissheit.
Die unverhoffte Aussicht auf eine Einzelausstellung in Schaffhausen bewirkte produktiven Schwung. Nach den glänzenden Kuben mit dem Vegetarischen wollte der Maler auch noch etwas Neues ausstellen, um Klischees und Überperfektion zu verhüten: die Pfostenbilder.
Die Intensität der Blaurock-Jahre ist präsent geblieben: Einsamkeiten, Lebens- und Liebeskummer, hartes Arbeiten, überbordende – aber immer von endlosen Debatten, Kulturaustausch bereicherte – Geselligkeit. Man lebte mit Nichts (manchmal vom Flaschenpfand) und von Allem, eine erfüllte, von Magnolien begnadete schwellende Schwellenzeit, die sich nicht wiederholen sollte. Vom Bodensee bis Zürich wurden Kontakte mit allen Generationen gepflegt. Als Karnevalsfeste mit hundert Gästen – die Deutschen mussten ihre mitgebrachte Suppe noch verzollen - und drei Orchestern stiegen, war es den Steinern nicht mehr geheuer. Der Blaurock war ein konzentrierter Kulturraum, Rausch und Ernst in einem. Jedenfalls erlebten wir das damals in vorweggenommener Nostalgie genau so.
Seit langem steht die Blaurock-Villa nicht mehr.
UM
Die erste Einzelausstellung
Das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen hatte einen guten Ruf als Kunsttempel – unvergessen die Eduard-Munch-Ausstellung zum Beispiel. Keine Experimente jedenfalls. Unter dem Kurator Max Freivogel öffnete es sich auch für junge Talente. Nach dem Bildhauer René Eisenegger belegte Bernhard Wüscher mit seinen Berliner- und Pfostenbildern die Abkehr von den hier bisher bevorzugten Stilen, die in Schaffhausen, wenn man genau hinsehen wollte, bereits nicht mehr so konventionell waren. Aber die Ausstellung Wüscher war eine Überraschung in mancher Hinsicht – nicht zuletzt für ihn selbst.
Es kam – über Berlin und hochgradige und mehrschichtige Abstrahierungen – eine eigene Aneignung von Popart, vegetabilisch Farbiges und härtere Konstrukte, Klötzen. Das Monumentale und der malerische Effekt wirkten voluntaristisch: vom ewigen "Gnusch" zur Synthese, wie der Maler es selbst empfand. Verankert und mehrdeutig somit wie die Pfosten. Oder: einfache Mittel letztlich raffiniert – aber eben nicht modisch - eingesetzt.
Der Zürcher Kunstkritiker Fritz Billeter lobte im "Tagesanzeiger" die Absenz von Pessimismus und falscher Innerlichkeit, weil Wüscher wie einst Ferdinand Léger (ein überraschender Vergleich) der hochtechnisierten Welt bereits sehr präzise "eine eigene Würde und einen eigenen Widerstand" entgegengesetzt habe.
Aus der Ausstellungszeit datiert auch die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Paul Nizon, der nie leichtfertig andere Künstlerexistenzen und –begabungen anerkennt. Die Freundschaft dauert an – ein Beweis.
UM
Barcelona – Paris – London
Nach der grossen Ausstellung im Museum zu Allerheiligen ist erneut Flucht aus der Kleinstadt angesagt. Es trifft sich gut, dass die hübsche Spanierin Vicky eine Studiums-Auszeit in Barcelona einlegt und sie mit Bernhard verbringt. Liebe statt Kunst. Über Weihnachten-Neujahr treffen die Freunde aus Schaffhausen ein, die Tage fliessen locker und leicht dahin.
In Lyon trennen sich die Rückreiserouten. Bernhard Wüscher fährt nach Paris, findet in der Rue Tournefort ein Billigsthotel, zeichnet in seinem bescheidenen Zimmerchen und besucht den Akt-Zeichenunterricht in der „Academie de la Grande Chaumière“. Die zweieinhalb Monate Paris sind äusserst intensiv, zwei dicke Mappen Zeichnungen zeugen davon, allerdings nur kurz.
Das Lebenszeichen einer Ehemaligen aus London lockt zur überhasteten Abreise aus Paris. Beim Umparkieren legt Bernhard seine beiden Zeichenmappen auf den Autodachständer, fährt dann aber nonstopp aus der Hauptstadt und merkt erst nach etlichen Autobahnkilometern, dass sich sein zeichnerischer Ertrag aus Paris buchstäblich in Luft aufgelöst hat. Es fällt schwer, sich den robusten 30-Jährigen als ein Häufchen Elend am Autobahnbord vorzustellen, aber es muss ein selten bitterer Augenblick gewesen sein.
Und bei der Ankunft in London stellt sich zudem heraus, dass die Ehemalige anderweitig liiert ist. In einem Akt sich selbst überwindender Disziplin setzt sich Bernhard hin und beginnt, die Pariser Zeichnungen aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. So entstehen die Pariser Zeichnungen neu, made in London.
EJ
Pfostenbilder
Einzel- oder Doppelpfosten säumen die Schiffländeufer vom Bodensee rheinabwärts bis nach Schaffhausen. Sie haben die prosaische Aufgabe, die schwimmenden Schiffe am sicheren Ufer zu halten. In einer Segelnacht sieht Bernhard Wüscher zwei dieser massigen Pfosten, angeleuchtet von einer Lampe. Sie werden zum Motiv einer ganzen Bilderserie.
Nur die ersten Postenbilder haben ein naturalistisches Aussehen. Rasch werden daraus abstrakte Doppelvolumen, manchmal verschwommen-schillernd, manchmal scharf abgehoben vom neutralen Hintergrund. Pinselstriche, die persönliche Regungen verraten könnten, fehlen ganz. Mit dem einfachen Mittel einer Handpumpe für Mottenvertilgungsmittel wird die Farbe in präziser Dosierung aufgespritzt und die Illusion der Rundungen erreicht. Das kräftige Doppelvolumen in den leeren Raum verselbständigt sich zu einem rein ästhetischen Gebilde, zu einem Ding an sich.
Das menschliche Auge muss sich wie ein schwankendes Schiff an diese meist gepaarte Rundkörper binden, wenn das Sinn-Ufer gewonnen werden soll. Wasser und Land, Weiches und Hartes, Bewegtes und Stabiles treffen am und im Pfosten aufeinander, der Holzpfosten selbst ist zwar biomorph, aber erstarrt. Das Doppelelement ist das Resultat der Suche nach einer Synthese der Gegensätze.
Das Ding an sich löst ein fragendes Staunen über eine auf das Minimum reduzierten Doppelform aus, deren Zweck durch die Abstraktheit aufgehoben ist. Es ist Ausdruck der Suche nach der sicheren, reinen Form in einer ungesicherten Gegenwart.
EJ
Atelier Schaffhausen-Riet
Mit dem Atelier Riet in Schaffhausen ist das Perfektionieren der Pfostenbilder eng verknüpft. Hier entstehen ganze Pfostenserien, die wie die Wurmbilder eine Epoche in Wüschers Werk ausmachen.
Sind es nicht Pfosten für die Kunstmacher-Ausstellung oder das eidgenössische Kunststipendium, so entstehen hier Portraits von Freunden, Aktzeichnungen von Mädchen aus dem Bekanntenkreis oder Landschaftseindrücke von der täglichen Fahrt nach Bargen in die „Krone“. Diese Landbeiz hat ein Freundeskreis mit Bernhard Wüscher als Wirtekollektiv übernommen. Wohnen und Wirten in Bargen, Kunst machen im Riet – die Trennung von Wohnen und Arbeiten ist ein wichtiges Grundmuster. Hier im Riet nutzt er das Atelier von Richard Amsler (1859–1934), einem einst anerkannten Schaffhauser Malers aus dem Grossbürgertum.
Anders als Amsler ist Bernhard Wüscher weder gesellschaftlich anerkannt noch sesshaft noch künstlerisch am Ziel. Kaum sind die Pfosten zu ästhetischer Reife und zu ganzen Gartenhaglandschaften gediehen, werden die perfekten Abgrenzungen angenagt, gelöchert, Bild-Illusionen zerstört. Eine markante Epoche neigt sich ihrem Ende zu, auch wenn das erst später erkennbar wird. Die innere Unruhe treibt zum Aufbruch aus der idyllischen Atelierwelt und dem sich auflösenden Wirtekollektiv. Wieder ruft die Anonymität der Grossstadt und das freie Leben in der Künstlergruppe. Nach einem unergiebigem Niederlassungsversuch in München landet Wüscher wieder in Berlin, wo er von Peter Herbrich das Atelier an der Admiralstrasse übernehmen kann.
EJ
Der Marmorklotz der Admiralstrasse
In einer dem Abriss anheim gegebenen Schreinerei in der Admiralstrasse entstehen die Marmorklötze. Modell war ein Marmorklotz von Peter Herbrich (es war sein Atelier), der hier unverrückbar und ärgerlich in der Mitte stand.
Die neue klare Form und das Abstraktionsvermögen Wüschers machen die Blöcke zu einer offenen, aber hier noch konkreten Chiffre, zunächst für das Berlin der Hinterhöfe in Kreuzberg an der Mauer. Das miterlebte soziale Elend war in den zerpressten, faulig-farbigen Früchten präsent. Die Macht (der Sanierer und Spekulanten), war der blendende, blenderische Marmorklotz. Der gelebte Widerspruch hat den Künstler psychisch hergenommen: "Ein Lehrstück". Die Transponierung der Form aber wurde auch zu einer "Rettung".
Berlin war so übermächtig, dass er sich immer wieder nach Schaffhausen retten musste, um nicht in diesem apokalyptischen Kabarett sich selbst zu verlieren. Es war zum einen das Konzentrat der Zeitgeschichte (damals noch mit der Mauer), zum anderen urbanes Schreckbild. Armut, Alkoholismus und Gewalt waren aber gleichzeitig und paradoxerweise auch Zeichen einer Vitalität, eines stumpfen Überlebensdranges.
(Unter den Müllbergen im Hinterhof schliefen in den eiskalten Wintern die Penner. Mit Schlagstöcken musste man sich gegen Einbrecher wehren. Viele alte Leute begingen Selbstmord. Aber die Kinder der armen Nachbarsfamilie Loos – der Vater litt unter einem Kriegstrauma – brachten dem Maler die Reste des Eintopfs!)
UM
Die vornehme Bankenwelt von Zürich-Enge
Die Vernissage der Hans-Josephson-Ausstellung in Museum Allerheiligen führt eine Zürcher Künstlerfangruppe nach Schaffhausen, die prompt in der „Krone“ Bargen landet. Dort erkundigt sich Bernhard Wüscher nach einem Atelierraum in Zürich und erhält postwendend das Angebot, die prächtigen Räume von Aja Iskander Schmidlin-Schmid zu übernehmen, der sich in den Fernen Osten abgesetzt hat.
Das Atelier in Zürich-Enge liegt in einer Gegend, in der sich gut gekleidete Zürcherinnen und Zürcher zielstrebig zwischen kalt-nüchternen Bank- und Versicherungsgebäuden bewegen. Das fällt einem auf, der von der Dorfbeiz in Bargen kommt und von den Künstlerquartieren in Berlin. Von dort bringt Bernhard Wüscher aber nicht nur sein nachlässig Äusseres und seine unzimperlichen Umgangsformen mit, sondern auch das Motiv der lebenzerquetschenden Marmorpressen.
In Zürich-Enge schwindet das Leben zwischen den Marmorbildern völlig, von einem kleinen Würmchen im „Bunker“ abgesehen, der sich wie ein Übergangsbild ausnimmt. In „Grosser und kleiner Marmor“ und andern Werken dieser Zeit strahlt der schwarze und weisse Marmor in Form harmonisch gesetzter, wohlproportionierter Kuben mit präzisen Kanten und optimaler Lichtwirkung. Die Perspektive wird perfekt eingehalten und schafft die schöne Illusion einer dreidimensionalen Körperlichkeit.
Wie bei den Pfosten wird eine neue abstrakte Idealform erreicht, es wird ein reines Spiel mit Volumen, die diesmal kantig-schneidend, aber nicht minder wuchtig und vornehm wirken.
EJ
Berliner Künstlergemeinschaft
In Berlin fand Bernhard Wüscher erstmals eine gleichgesinnte Künstlergemeinschaft, mit der ein freundschaftlicher, leidenschaftlicher und professioneller Austausch möglich war: mit Peter Herbrich, Hans-Ulrich Brunner, Dieter Schäfer und mit seinem "Drucker" Peter Decker.
Die Muskauerstrasse wurde für lange Zeit zum zweiten Wohnsitz. Decker und Wüscher teilten sich eine Wohnung. Druckerei und Atelier ergänzten sich manchmal besser als die zwei nicht einfachen Charakter. Aber alles wurde fruchtbar: "Meine beste Zeit" in Berlin, sagt Wüscher.
Die berühmte und berüchtigte Kreuzberger Kneipenszene war unter den damaligen Berliner Verhältnissen etwas Aussergewöhnliches. Abends ging man um die Ecke zu "Litfin", ein uraltes, sehr bekanntes Künstlerlokal, zu Bier und Hähnchen.
Die damalige Künstlichkeit Berlins ertrug sich gut mit Kunst.
UM
Glazialflora
Im Winter froren manchmal die Farben ein.
Malerisch ging es einen Schritt weiter in die Glazialflora (Marmorkälte!). Die Blöcke wurden eisig, durchsichtig oder rosarot, aber auch schwarz mit Goldmaserungen. Varianten und Abarten entstehen und werden ausprobiert. Der Klotz – da nicht eigentlich perspektivisch - hatte schon vorher sein kubisches Gewicht verloren. Er konnte auch blosse Attrappe sein. Aber er steht immer noch für Ordnung, Macht, den schönen Schein des Design, gesellschaftliche Unfreiheit. Für Verführung auch: das überspitzt Ästhetische täuscht, aber auch das ideologisch Thematische.
Man musste diese Stadt mit Disziplin und Verweigerung gegenüber krudem Realismus verarbeiten, weil sie durcheinander brachte. Man konnte auch nicht aus dem eigenen Schweizer-Sein in der Distanz verbleiben, aber musste sofort immer Distanz nehmen und erkämpfen: zu Berlin und zur eigenen Verunsicherung.
Damals beherrschten die postexpressionistischen "Jungen Wilden" die Galeriemode und die Galeriepreise. Wüscher hat sich nie einer Strömung hingegeben, sondern der "Selbstexploration":
"Wüscher ist ja nun überhaupt kein Wilder, wenn er auch als Mensch und Künstler eine Natur ist, sogar eine Kraftnatur,... aber das Gewalttätige, der Triebcharakter und Instinktkeller sind doch sehr überwacht von Intellekt und Kunstverstand und gedämpft durch zarte Saiten: Ursprünglichkeit und Ästhetik halten sich die Waage – ein merkwürdiger Haushalt alles in allem." (Paul Nizon)
UM
Bernhard Wüscher – der Ein/Auf/Taucher
Ein Selbstportrait taucht auf. Erscheint an der Oberfläche. Bernhard Wüscher taucht auf.
Unsere Beziehung ist eine Tauchbeziehung. Wüscher taucht ab/ein/weg, nach Spanien, Berlin, Südamerika, der Schreiber nach England, Israel, Kanada. Manchmal tauchen wir auf, hier an der Oberfläche in Schaffhausen. Manchmal tauchen wir gleichzeitig auf, manchmal finden wir eine gemeinsame Unterfläche, manchmal ist dies nötig, sehr sogar.
Oberflächen und Tauchen sind zwei Begriffe, die untrennbar mit dem Malen verknüpft sind. Der Künstler taucht ab/ein/weg in seine Welt, manchmal tief, manchmal für eine Ewigkeit. An der Oberfläche erscheinen Blasen, Wellen, aufgewirbelter Staub – Spuren, die sich zu einem Bild fügen, eine Bild/Fügung. Das Resultat des Aufenthaltes an der Unterfläche erscheint an der Oberfläche.
Der Maler bringt seine Unterwelt auf die Bild/Oberfläche. Der Betrachter ahnt nur vage, was an der Unterfläche geschah: Spurensuche, Zweifel, Verwerfung, Freude, Befriedigung, Unmut, Bestätigung. Ein einsamer Kampf in der Abgeschiedenheit. Die Bild/Oberfläche ist des Künstlers Interpretation seiner Unter/Welt.
Der Betrachter versucht, die Bild/Oberfläche in seine Welt zu integrieren. So muss auch er ein/ab/weg/tauchen in seine eigene Unter/Welt. Nur so kann eine Exegese stattfinden. Von unten nur ist eine Sinn-stiftende Auseinandersetzung und Bewältigung möglich, Sinn muss sein.
Auch eine schwere und einsame Arbeit, doch zuweilen auch eine sich zu tiefst lohnende.
Urs Kick
Ausstellung Wüscher – Herbrich
Anfang 1977 fand im Museum Allerheiligen in Schaffhausen die Doppel-Ausstellung Bernhard Wüscher – Peter Herbrich statt. Etwas Wuchtvolles in jeder Beziehung. Auf die massiven Skulpturen von Herbrich aus Bronze und Marmor antworteten mit gleicher ästhetischer Schärfe und Eindeutigkeit an den Wänden die Blöcke von Wüscher. Seine Serie von Klötzen war nun ausgefeilt, variiert und perfektioniert.
Oder nicht ganz? Am Tag vor der Vernissage malte Wüscher im Museum selbst nach dem Hängen auf den Rat von Kurator Max Freivogel alle gepressten Früchte neu. Sie waren ihrer Rolle gemäss zu liederlich ausgefallen und mussten nun der umgebenden malerischen Präzision angepasst werden.
Eine Kunsthistorikerin vom Schweizer Fernsehen filmte für die Tagesschau die Ausstellung und zeigte sich höchst überwältigt vom Oeuvre. Der unterdessen bekannte zeitgenössische Schaffhauser Komponist Beat Furrer (Jahrgang 1954, Wien) spielte im Ausstellungssaal mit seiner Jazz-Band eigene Klavier-Improvisationen zu den Bildern. Trotz diesen Resonanzen blieb eine Aussenwirkung leider aus. Aber der Kunstbeweis war geliefert.
UM
Vom Fortgehen und vom Heimkommen des Bernhard W.
Damals wohnte er meistens bei uns in Siblingen, wenn er nicht gerade im Atelier war. Wenn Bernhard aufbrach, habe ich ihn immer beneidet und vor allem bewundert. Wo nimmt er nur den Mut her, einfach das Köfferlein zu packen und wegzufahren? Mit einem Ziel zwar, aber nicht wissend, was ihn dort erwartet; einfach einem Trieb folgend, dem Trieb, der Bernhard sein Leben lang malen lässt.
Manchmal kündigte er sein Weggehen an, bereitete es vor. Kaufte einen alten 2CV-Transporter, baute ihn um. Man half beim Einladen. Dann wurde er verabschiedet und los fuhr er. Manchmal war er auch einfach am Morgen nicht mehr da.
Immer kam er wieder. Irgendwann. Er musste wohl am späten Vormittag losgefahren sein. Er kam oft mitten in der Nacht an und holte uns aus dem Schlaf mit einem Schatz an neuen Bildern (die waren noch irgendwo verpackt) und an Geschichten, die er erzählen musste. Er setzte sich auf den Bettrand, bestimmt holte man noch etwas zu Trinken, und er erzählte, bis wir unsausgeschlafen zur Arbeit gingen, zurückkehrten, und er war wieder da, diesmal mit den Bildern, die er aus dem Transporter geholt hatte, und die er eines nach dem anderen aus der Verpackung schälte. Da standen sie nun, die neuen Wunder. Anfänglich noch fremd, unverständlich, etwas Neues halt, bald aber wurden sie vertraut. Bekanntes tauchte im Neuen auf. Da wurden aus Mollusken Marmorblöcke, aus Marmor Feuer, aus Feuer Landschaft. Kräftig und auch sanft, leidenschaftlich und zart. Bernhard war wieder da.
Ueli Luginbühl
Heimatexil – Exilheimat
Von Schaffhausen nie loskommen (wollen), aber immer wieder weggehen (müssen).
Die erdrückende Bedeutung von Berlin (und in geringerem Mass von Mailand) für das Werk.
Die nicht nur schöne Heimat, das keinesfalls trostlose Exil. Austauschbar: die manchmal trostlose Heimat, das schöne Exil.
Die Polarität bedingt sich, sie wird zur Wechselwirkung, zur physisch und psychisch wohltuenden Gewohnheit und Lebens-, Schaffenskur. Das Extremleben in Berlin, es "reichte dann plötzlich wieder". Das Untertauchen in Schaffhausen auch. Die länger werdenden Spannen des Wechsels passten sich gerne der Familie an. Das Exil war jetzt im Kopf, als Möglichkeit, Berlin immer präsent. Auch Giacometti zum Beispiel hat sein Bergell nie wirklich verlassen, er blieb auch im Pariser Montparnasse darauf angewiesen.
Das eine ohne das andere nicht auszuhalten – weder im einen noch im anderen überlebensfähig.
Das "Schaffhauser Wesen in mir" (wie Wüscher selbst sagt) bestimmend und verankert, auch wegen der Beziehungen zu den eigenen Bilderfreunden und -käufern. "Man kann sein, wo man will", sagt er auch noch, "man muss immer eine Form finden, mit sich zu leben."
UM
Mailand – die farbliche Last der Tradition
Ein europäischer Künstler, der nach Süden reist, schleppt die ganze Kunstgeschichte und die Erlösungsverheissung Arkadiens mit sich, entweder im Wissen oder als Intuition. Dem Licht, der Formen und Farben der Kulturlandschaft entzieht sich keiner.
Die neue Bilderwelt, die Bernhard Wüscher in Mailand-Capolinea erschafft, zeugt einmal mehr von einen Stilwandel, der vordergründig radikal ist. Goldene, sattrote, reifgelbe und altblaue Töne herrschen vor, die Schwere und Tiefe der aufeinander prallenden Farbelemente erinnert an farbige Glasfenster in dunklen, alten Kirchen.
Der geübte Bilderleser wird aber bald die Umrisse der Landschaftsklötze in „Der Kampf“ und in der „Farbigen Verstrebung“ erkennen, allerdings sind sie nur noch Vorwand für die wilden Farblandschaften, die in ihnen und über sie hinaus wuchern. Die Strukturelemente versuchen vergebens, den sattfarbenen Wildwuchs einzudämmen. Farben beherrschen das dichte Bild und erzeugen eine Rembrandt-Stimmung, auch wenn sie keine einzige Figur darstellen.
Die einstige nordisch-kühle Nüchternheit der schwarz-weissen Marmorklötze hat einer überbordenden katholischen Sinnlichkeit Raum gegeben. Nur noch kleine geometrische Elemente in hellen, frischen Farben erinnern an die Moderne jenseits einer Zeit der schweren bezugsschwangeren Wandteppiche und Brokatüberzüge.
Die Fülle des Lebens paart sich in diesen Bildern mit der belastenden Erfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erlösendes Heil hat Arkadien nicht gebracht.
EJ
Reisen mit Bernhard Wüscher in Lateinamerika
Wir waren damals für vier Jahre in Rio de Janeiro und haben Verwandte und Bekannte animiert, uns in dieser einzigartigen Weltstadt zu besuchen. Unser Freund Bernhard Wüscher wagte den Sprung in eine völlig andere Kultur und er kam. Es wurde für uns alle drei eine unvergessliche Zeit der Gemeinsamkeit.
Ob Bernhard in Brasilien je ganz angekommen ist – so eindeutig ist das nicht. Aber bei uns kam er an, und wir waren glücklich, unsere Eindrücke von der anderen Welt mit ihm diskutieren zu können. Über ansehnliche Quanten Caipirinha und Churrasco gelang es, sich der fremden Kultur anzunähern.
Und kaum war er da, ging’s improvisiert auf Reisen durch Chile und Argentinien. Eine Frau und zwei Männer monatelang unterwegs – das hätte zu Komplikationen führen können. Unser Trio hatte aber bereits in der alten Welt die Kanten geglättet, wir hatten es einfach unbeschwert schön. Ich genoss es, auf dem einfachen Herd im VW-Bus zu kochen und meine beiden gemütlichen Esser und Trinker zu verwöhnen, und sie dankten es mir durch lange, tiefe Gespräche über Gott, die Welt und die Kunst.
Dann und wann setzten wir Bernhard unterwegs ab und aus, er wollte sich in seinem Lebenshunger einige Tage selbst durchschlagen. Wenn wir ihn dann in irgend einem Hafen oder zweifelhaften Hotel wieder aufluden, war er gespickt mit lebensnahen, selten auch lebensbedrohenden Erfahrungen, aus denen er sich immer herauszuwinden verstand. Ein lebenstüchtiger Dickhäuter, aber mit einer ganz zarten Seele.
Bea Joos-Müller
Brasilien – Chile – Argentinien
Die Ferien der Escola Suiço-Brasileira in Rio de Janeiro dauern vom Dezember bis März, Zeit genug für eine kleine Weltreise. Der ausgebaute VW-Bus brachte Bea, Edi und Bümp Wüscher zu den Iguaçu-Fällen, durch Paraguay nach Nordargentinien und über den 4500-m-hohen Huaitiquina-Pass in die endlose Wüste von Atacama. Am 9. Januar 1978 spülten uns die Wellen des Pazifik in Tocopilla nach 5200 km den Wüstenstaub aus den Haaren.
Kein Kunstreislein also, vielmehr eine Expedition durch extreme Natur- und Klimawelten mit Menschen, die von ihrer Lebenssituation geprägt waren: Der rasche Wechsel von Flora, Fauna, Fluss- und Gebirgslandschaften war mehr, als ein Zeichenstift einfangen konnte. Die Eindrücke wurden fotografisch festgehalten und in langen Gesprächen bei Beas Kochkünsten unter freiem Tropenhimmel verarbeitet.
Erst im Hafen von Valparaiso setzte sich Bernhard für einige Tage allein wieder dem urbanen Milieu aus, und zwar so intensiv, dass er bis über die Anden zurück nach Buenos Aires zu berichten hatte. Ein Abstecher nach Ushuaia ganz im Süden lag noch drin, aber Bümp war der Charme der argentinischen Hauptstadt wichtiger als weitere Reisen, zumal ja noch die Rückfahrt nach Rio de Janeiro bevorstand. Ende Februar sahen wir in der Morgendämmerung den Zuckerhut wieder.
Im malerischen Werk von Bernhard Wüscher fehlt die Lateinamerikareise, aber nur vordergründig. Die tropischen Farben, das unendliche Meer und vor allem die gelbe Wüste haben sich damals in sein Unterbewusstsein eingefressen.
EJ
Säuferin
Wüschers Werk zeichnet sich durch Bilderserien aus, die ganze Malepochen prägen: Wurmbilder, Pfostenbilder, gelbe Landschaften. Daneben gibt es Einzelwerke, die nicht in den Epochenrahmen passen. Besondere Beispiele dafür sind die „Säuferin“ und die „Punkerin“. Wie die Bilder aus dem Werkrahmen fallen, fallen die gestalteten Personen aus dem gesellschaftlichen Rahmen. Erscheinungen dieser Art gehören zur Grossstadt Berlin, sie sind dort nicht einmal selten. Dass sie zu künstlerischen Sujets werden, hat mit ihrer Faszination zu tun.
Die Säuferin hat ein Urbild in einer durch die Strassen von Berlin torkelnden Frau, beobachtet in der Gegend ums Atelier Berlin-Crellestrasse. Der unstete Blick der Frau und ihre notorische Benebeltheit finden ihre Entsprechung im giftig oszilierenden Grün-gelb des Kopfes. Die Ärmlichkeit ist an ihrer viel zu engen Jacke mit Kordel-Holz-Verschluss ablesbar, gleichzeitig markiert die gelbe Farbe das Gerippe und weist auf den unentrinnbaren Tod, dem sich die Frau entgegensäuft. Ihre an sich erbärmliche Welt verklärt sich im Alkoholsuff zu einer rotwarmen Hülle, durch die sie in ihrer hellblauen Körperlichkeit schlinggert. Der Körper selbst ist von innen durch das Grau-schwarz des Todes angefressen, ausgehöhlt, zerstört. Die Tristesse wird aber in so warm zerfliessenden Farben aufgehoben, wie wenn sich das Säuferleben bald in den erlösenden Tod ergiessen würde.
Das gespaltene Gesicht zeigt einen Rest von Wachheit im Suff: aus der verdunkelten Gesichtshälfte blickt ein Auge dem Ende klar entgegen.
EJ
Arbeitsatmosphäre in Berlin
„Heute war wieder wie gestern und vorgestern ein arbeitsamer Tag. Für die neue Malerei brauche ich viel Zeit, die ich aber habe und die ich voll dafür einsetzen will.
Ich habe zwei Portraits von dir in Arbeit, das heisst, sie sind fast fertig und ziemlich schön. Sehr liebend und positiv, eben so, wie ich mich fühle dir gegenüber. Ich lebe jetzt sehr reduziert; Arbeit tagsüber, dazu ein bisschen Musik und Zeitung, manchmal ein paar Gespräche mit Peter Herbrich oder Klaus. Abends meist noch ein paar Halbe in der Kneipe und meist noch einen Salat, zusammen mit Peter Decker. So vergehen die Tage ruhig.
Ich habe mir vorgenommen, nur dann rumzulaufen in der Stadt, wenn ich am Bild nicht mehr weiterkomme, dann ist auch der Schlendrian sinnvoll eingebaut und als Anregung sehr wertvoll.“
(Aus einem Brief von Bernhard Wüscher an Simone Ineichen. Berlin, 28. November 1982)
Ein Leben mit Bernhard Wüscher
Wir trafen uns 1979 im Belair. Beide spürten wohl Zuneigung, aber zuviel Enge wollte keiner. Beide auf dem Weg zu neuen Ufern: ich mit der Physioausbildung, Bernhard seit längerer Zeit als Maler.
Wenn Bernhard in Berlin war, verbanden uns Briefe und das Telefon. Allmählich wuchs dabei die Vertrautheit und damit die Sehnsucht nacheinander. Als eher langsame Spätzünder im Beziehungsdickicht liessen wir uns Zeit. 1983 war ein Fundament gewachsen, das mich in Schaffhausen bleiben liess. Ich zog ins Belair und wir übten das gemeinsame Leben. Nicht immer nur harmonisch, aber spannend. Es geschah das, was uns später Paul Nizon zu Kathrin wünschte: Wir wuchsen einander zu.
Bernhard ist mir zuerst als Mensch lieb geworden, nicht als Maler. Wir können uns aufeinander verlassen, spüren uns gut, auch wenn wir nicht aneinander kleben. Zwar vermissen wir uns, wenn Bernhard in Berlin ist, aber es bringt uns nicht um. Meiner Arbeit konnte ich unbesorgt nachgehen, Bernhard hat sowohl Kathrin umsorgt, als auch den Haushalt gepflegt. Wenn er mit Markus eine Freinacht macht, läuft das vielleicht gegen den Strich, aber es tut allen gut.
Wir sind beide gern in Frankreich, Italien oder Spanien, kochen dort gut und lesen, besprechen den Zeitgeist und lachen gerne miteinander. Die ganz grossen Höhenflüge hat keiner von uns gemacht. Auch Kathrin musste auf Geschwister verzichten, weil die Balance fragil ist bezüglich Zeit, Geld, Energie. Ein Gewinn ist’s alleweil und bleibt’s hoffentlich noch lange.
Simone Wüscher-Ineichen
Bildhauer Peter Herbrich über Bernhard Wüscher
Bernhard Wüscher und ich hatten unsere Ateliers 1982–1983 in der Crellestrasse in Berlin, im gleichen Fabrikgebäude, Bernhard im 3. Stock, ich im Souterrain. Ich kann unsere Situation von damals nur schemenhaft zeichnen, alldiemal unser Umgang damals viel differenzierter war, als ich es in meiner beschränkten Sprache ausdrücken kann. Ich versuche einfach, mich an unseren Alltag zu erinnern.
Tag für Tag dasselbe – die Arbeit.
Mittags dann das Essen beim Metzger und ein (nur ein) Bier im Felsenkeller Akazienstrasse, dann zurück in die Crellestrasse: Bernhard in den 3. Stock, dem Himmel etwas näher, und ich ins Souterrain zur Basis, in die Hölle mit Steinstaub usw. Auf den Abend verabredeten wir uns fast regelmässig im „Gottlieb“, einer schönen, von süddeutscher Hand geleiteten Wirtschaft.
Bilder, die in dieser Zeit entstanden, waren unter andern das „Selbstbildnis am Fenster“, „Frau im Badezuber“, dann ein Bild von mir mit langem schwarzen italienischem Mantel, ebenso ein Portrait von mir mit rotem Schal und Baskenmütze. Wir besuchten uns gegenseitig und machten uns Gedanken über das gerade entstehende Bild oder die Skulptur. Manchmal auch heftig.
Ich hatte den Eindruck, dass Bernhard ein solider Arbeiter an der Sache war. Jede schnelle Gefälligkeit, Gestikuliererei war ihm fremd.
Soweit Berlin Crellestrasse 1982–1983.
Peter Herbrich
Nie etwas gelernt – ein ewiger Autodidakt?
Er habe nie etwas gelernt, sagte er einmal fast verzweifelt, um sogleich sehr zufrieden zu bestätigen, dass er nie an eine Kunsthochschule gedacht habe. Er hätte nämlich Angst gehabt, zu "anpässlerisch" zu werden. Seine Sache war es, "eigenes Zeug" zu finden und sich dafür die entsprechenden Maltechniken anzueignen.
Das WAS stand im Vordergrund, das WIE musste folgen.
Er schaute und schaute bei den Altmeistern. Verbrachte Tage um Tage in der fast leeren Berliner Nationalgalerie. Dann war er schliesslich zuversichtlich: "Man kriegt den Blick". Auch gaben die Malerfreunde wertvolle Ratschläge.
Zudem lag ihm das Handwerkliche. Er ging nach der Methode "Versuch und Irrtum" vor, zum Teil mit Frechheit, aber mit noch viel mehr Geduld. Es herrschte eine fruchtbare Spannung zwischen dem Ziel und dem Mittel. Wie er einmal schrieb:
"Zwei Bilder stehen nach der ersten Woche hier vor der Vollendung, d.h. sie erreichen den Punkt, wo ich nicht mehr weiter weiss, es ist also eine relative Vollendung, aber immerhin – bin ich doch schliesslich selber das Mass meiner Malerei."
Und einmal hört man auf Autodidakt zu sein, so wie der Kunstschulzögling umgekehrt seinen Akademismus ablegen muss, um ein guter Maler zu werden.
UM
Wüscher hat sich der Landschaft zugewandt
„Vergangenen Winter, es ist nun bald ein Jahr her, sah ich in Bernhard Wüschers Atelier eine Reihe neuer Bilder, darunter eine Serie winterlicher Bäume. Es sind, genauer besehen, eher Arabesken denn naturalistische Silhouetten, es sind eine Art Gerinnungen. Etwas Dunkles gerinnt zu baumbedeutendem winterlichem Gestänge, und das Gestänge besitz die Gestik des Kahlen, Einsamen und interpretiert als magisches Zeichen den Winterraum. Grenzbilder zwischen innen und aussen: es ist dein Baumgefühl, während du den Baum anschaust, was dir im Bild entgegentritt.
Ganz ähnlich in den herbstlichen oder spätsommerlichen Landschaften, wo die Natur aus verwischten Farbschleiern, Farblagern, Farbkissen buchstäblich aufersteht. Das ganze neue Unternehmen ist eine tastende Annäherung an die sichtbare Welt, das Naturbild, das Landschaftsbild, Jahreszeitbild – allerdings wie durch eine Scheibe gesehen, die alles dämpft und verwischt. Die Scheibe ist die Trennwand zwischen innen und aussen, die Mattscheibe wachträumerischer Annäherung: der Malakt ein Grundieren als Ergründen: des Ich’s eigenen Instrumentariums? Eigener Vorstellungskraft? Der Welt im Ich?“
Paul Nizon
(aus: Bernhard Wüscher, Bilder 1975–1989, Berlin – Mailand – Fuveau. Schaffhausen 1995)
Ehelichen
Die Beziehungen wechseln, die Scheu vor einer festen Bindung bleibt. Auch als 1979 eine Gruppe angehender Physiotherapeutinnen ins Atelier kommen und einzelne nachher Modell stehen, ändert sich nichts, ausser dass es mit der Luzernerin Simone Ineichen zu einer Reise nach Mailand kommt. Und dann ist Bernhard schon wieder in Berlin-Schöneberg, wo im kalten Winter 1982/83 im Atelier an der Crellestrasse die grossformatigen Selbstportraits entstehen. Wenn die Beziehungen wechseln wie die Arbeitsorte und Malthemen, wie soll da etwas Beständiges wachsen? Und doch, die regelmässigen Telefongespräche mit Simone von Berlin nach Merishausen SH werden wichtig, werden inspirierende Gewohnheit. Und als Simone eines Tages mit Fistelstimme berichtet, sie sei an einer Lungenentzündung erkrankt, packt Bernhard in Berlin und reist zurück.
Aus den gelegentlichen Besuchen wird Wohngemeinschaft, Lebensgemeinschaft. An Ostern 1984 brechen Simone und Bernhard zu einem mehrtägigen Künstlertreffen nach Carrara (Italien) auf, es folgt eine Reihe von glückhaften Tagen an üppigen Tafeln in freier Natur. Die Schwangerschaft Simones ist Anlass zur standesamtlichen Ehe ohne Feier und Pomp, wie vorbesprochen. Am 15. Januar 1985 wird Kathrin geboren. Der Künstlernomade ist nun auch Ehemann und Familienvater. Geht das überhaupt? Ist das der Abschluss eines langen Lebens(um)weges? Oder ist es der Beginn eines neuen Künstlerdaseins in gefestigtem Rahmen? Im Rückblick ist es die entscheidende Lebenswende, die zu einer Vitalisierung des künstlerischen Schaffens führt.
EJ
Kathrin beim Fotograf
Wie beim Heiraten schlägt mit Kathrins Geburt das Biografische voll in Wüschers Bilderwelt durch. Das Suchen im abstrakten Raum weicht der Darstellung des buchstäblich Nahe-Liegenden, Nächst-Liegenden. Die gewollte Weitergabe des eigenen Lebens ist ein Ankommen in höherem Sinn, eine Erfüllung, die sich naturalistisch in einer ganzen Anzahl von Menschenbildern ergiesst. Eines davon ist das heitere Bild „Kathrin beim Fotograf“.
Es ist auch die Abbildung des neuen Lebensinhaltes, denn Wüscher ist drei Monate nach der Geburt bereits halbtags verantwortlicher Vater und Hausmann, weil Simone mit einer Kollegin ins neu übernommene Physiotherapiegeschäft einsteigen muss. Die Haus- und Familienarbeit wird streng hälftig aufgeteilt, das ist Teil des Ehe-Agreements. Simone ist als Geschäftsfrau auch ein wirtschaftliches Standbein der Familie. Bümp Wüscher, so sein Spruch, kann zwar die Butter aus Brot verdienen, es braucht aber noch Simone, die für das Brot aufkommt. Beide teilen sich gut und gern in die neuen Verpflichtungen.
Das äussere Leben von Bernhard Wüscher beruhigt sich spürbar, die Zeit des Umherziehens macht einem Leben Platz, der die Familie zum Mittelpunkt hat. Die Umstellung wäre nicht so leicht zu verkraften, hätte sie sich nicht langsam angebahnt, wäre sie nicht vorbereitet und gewollt. Die Ehe wird nicht als Wagnis erlebt, sondern als natürliche Folge und Ausgangspunkt einer neuen Lebensform, die mit Kathrin einen Mittelpunkt hat. Das harmonische Bild ist sichtbarer Ausdruck der neuen Lebensaufgabe.
EJ
Portrait Hannes Gnädinger
Der Ursprung des Portraits von Architekt Hannes Gnädinger ist die abwehrende Gebärde des Gesprächspartners, eingefangen in einem fotografischen Augenblick auf dem Randen. Daraus entsteht das Bildnis eines homo faber, das Bernhard Wüscher aber nicht zu befriedigen vermag. In einem einmaligen Anfall von Ärger wird die ganze Leinwand samt Portrait mit schwarzem Kunstharz von oben bis unten überstrichen, das Ärgerliche getilgt.
Aber eine knappe Stunde nach dem Akt des Ärgers setzt die Reue ein, der Wille, das begonnene Werk und den Freund aus der Schwärze der Nacht zurückzuholen, dem Entseelten wieder Leben einzuhauchen, ihm erneut eine Chance zu geben. Mit gut dosiertem Terpentinlappen und sorgsamen Bewegungen wird der abwehrende Hannes Stück für Stück aus der dunklen Schwärze zurückgeholt, Kopf und Hände vorsichtig herausgepützelt. Doch die Spuren der Finsternis lassen sich aber nicht mehr vollständig tilgen. Kopf, Hände und Arme des Freundes, besonders aber die Halspartie und das Hemd sind unwiderruflich gezeichnet von der schwärzlichen Farbe des Unheilvollen, Drohenden, das den ganzen Menschen umgibt, der das drückende schwarze Gewicht nach oben abzustemmen versucht. Ein Atlas, der das Himmelsgewölbe stützt, damit es ihn nicht erdrückt.
Zwei Tage darauf, am 26. April 1986, erfolgt im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl der Reaktorunfall, der mit seinen radioaktiven Ausfällen von unerwartetem geografischem Ausmass die Welt und das menschliche Vertrauen in die Technik erschüttert.
EJ
Bauland
Nur in der Idylle ist die Welt fertig gebaut, nur in der romantischen Rückschau erscheinen Wald und Dorf unverrückbar schön, nur in der goldenen Vergangenheit ist der fiedelnde Wandersmann bei der klappernden Mühle immer heiter und unbeschwert. Die reale Gegenwart war wohl immer anders.
Dem Zeitgenossen des ausgehenden 20. Jahrhunderts präsentieren sich die Agglomerationen als dauernde Baustelle. Kaum ist im Quartier oder am Stadtrand eine Siedlung fertig gebaut und bezogen, erscheinen am Horizont neue Baugespanne. Die Baumaschinen werden nicht abgezogen, nur verstellt, die Gerätschaften gezügelt. Nichts ist fertig, der Aktionsraum wird lediglich verschoben. Zwischen dem fertig gebauten Stadtquartier und der noch intakten Landschaft entsteht immer wieder neu ein verplantes Zwischengelände voller lästiger Unordnung, Unruhe, Spannung. Es eröffnet zwar für die, welche dort wohnen oder werken werden, neue Perspektiven. Für die andern aber ist es Bauplatz, störende Lärmquelle, begrenzte Sicht, Umbruchland, verbaute Zukunft, Einspruchsgrund. Obwohl die Wohnbevölkerung stagniert, entsteht mehr Wohnraum. Die Wohnfläche pro Einwohner verdoppelt sich, die Vereinzelung greift um sich, es entsteht eine Gesellschaft der Singles, die Ansprüche des Einzelnen steigen.
Bauland als tristes Symbol einer noch nicht gewonnenen Zukunft, nach der zu streben es sich vielleicht gar nicht lohnt. Zeitkritik in farbiger Diagonale, wobei die störende Gegenwart im kräftigen Vordergrund rechts unten durch die milde Zukunft links oben leicht gedämpft erscheint.
EJ
Dialog
Theatralisch wenden sich die beiden Hauptdarsteller einander zu, es könnte ein Paar in einem Ehedialog sein. Hat der Mann rechts einen Helm auf, die Frau links einen Vogelschnabel? Weder wird erotische Spannung aus dem Bild lesbar noch eindeutig Streit, aber sowohl im Thron als auch in der herrischen Haltung wird Selbstbewusstheit zweier antagonistischer Figuren erkenntlich.
Bernhard Wüscher schaut sein Bild an und versucht sich selbst zu deuten, indem er den Malvorgang beschreibt, wie er ihn immer wieder erlebt. Er setzt sich nicht vor die Leinwand mit dem Plan, ein menschliches Paar zu malen. Er ist kein Freilichtmaler, der die Staffelei vor der Brücke aufstellt und sie abbildet. Ihm geraten die Farben im Atelier halb unbewusst auf die Malfläche, auf der nach und nach ein ästhetisches Gebilde entsteht, bei dem die Farben eine wichtige Rolle spielen. Das organisch Entstehende drängt zur Deutung, das Denken setzt ein. Im Dialog mit dem entstehenden Werk wird nun interpretierend gestaltet, inszeniert. Requisiten und künstliche Versatzstücke gelangen ins Bild.
Gesucht wird im Malen das Abenteuer, die Überraschung, und nicht selten finden sich im Nachhinein Bezüge auf das aktuellste Gegenwartsgeschehen auf der Leinwand. Dem Maler wäre es zu langweilig, wenn er schon wüsste, was zu entstehen hat. Themen suchen sich den Künstler aus, der ihr Opfer und Täter zugleich wird.
Der Künstler als unbewusst Kreativer, als Seismograf gesellschaftlich-menschlicher Ausstrahlungen und Erschütterungen.
EJ
Punkerin
Eigentlich war es vor Wüscher der Bildhauer Peter Herbrich, der das Motiv dreidimensional gestaltete, indem er seine Punky auf den Kopf stellte und ihren Kopf mit dem stacheligen Schornsteinbesen eines Berliner Kaminfegers verzierte.
Bernhard Wüscher gestaltet seine „Punkerin“ etwas später, fernab von Berlin – als Erinnerung – in Schaffhausen. Es entsteht ein Kopf mit Strahlen, der eine kubische Nase erhält, wie sie die „Demoiselles d’Avignon“ bei Picasso tragen. Die Punkerin hebt sich selbstbewusst aus der amorphen Masse der grauen Grossstadtwelt heraus, inszeniert sich selbst, schaut durch uns durch. Nach oben ist ihr Schicksal offen, der an den obern Bildrand anschliessende Blattgoldstreifen trägt in sich die Verheissung einer himmlischen Zukunft. Das grossformatige Bild lebt in allen Teilen von einer stolzen Vornehmheit sowohl der Formen wie der Farben. Die grosse Gebärde der Erwachsenden zeigt sich in zügigen Pinselstrichen und im Haarkranz, jungmädchenhaft nehmen sich dagegen die Äuglein und der doppelfarbige Mund aus. Die ins Gesicht fliessenden Haare erinnern gar an eine kindliche Comicfigur.
Die Säuferin nimmt wie den Tod auch ihre Auffälligkeit in Kauf, die Punkerin dagegen will um jeden Preis auffallen, will ihrem unbedeutenden Schicksal durch bizarre Körpersprache entrinnen und die Zukunft gewinnen.
Dass die Mädchenfrau, die ihr Inneres abschirmen will, durch ihr exaltiertes Auftreten viele Einblicke gewährt und Deutungen gestattet, ist ihr kaum bewusst.
EJ
Wüscher in Prag
Wüschers Ausstellung in der Gallery Úkdz hat in der Prager Presse grosse Beachtung gefunden. Deshalb wird er angefragt, ob er seine Bilder für Vaclav Havels Silvesterfeier zur Verfügung stellen könnte. Dort, im Kulturnj Dum, einem heruntergekommenen Jugendstilpalast, der als Kulturhaus dient, kontrastieren Wüschers Werke in idealer Weise mit der verblichenen Jugendstilpracht.
Es ist 23 Uhr, die letzte Stunde des Jahres 1992 bricht an. Nach dem opulenten Silvestermahl fliessen Bier und Becherovka in Strömen. Wir saufen mit unseren Prager Freunden in einem Nebenzimmer das alte Jahr zu Tode. Havels Freunde im Festsaal gegenüber stehen uns, am Lärm gemessen, in nichts nach.
„Bernhard komm! Vaclav – will deine Bilder betrachten,“ ruft ein nervöser Herr in die ausgelassene Runde. Im Foyer kommt uns der von Statur kleine Vaclav Havel entgegen, flankiert von zwei hünenhaften Leibwächtern, die unablässig sein Haupt tätscheln. Wahrlich ein kafkaeskes Bild!
Der tschechoslowakische Präsident und der Schaffhauser Künstler schreiten gemessen von einem Bild zum andern. Havel stellt hier eine Frage, macht dort eine Bemerkung. Vor dem Werk „Der geplagte Kasper“ verweilen sie länger, Plötzlich nimmt Bümp das Bild von der Wand und überreicht es Havel. Sichtlich gerührt nimmt Vaclav Havel das unerwartete Geschenk mit der Bemerkung entgegen: “Privat darf ich das Geschenk leider nicht annehmen, ich bin hier in offizieller Mission. Ihr Bild, das mich sehr berührt, wird aber einen angemessenen Platz in der Prager Burg erhalten.“
Markus Gnädinger
Die Sehnsucht Fuveau
Unser "cabanon" in Fuveau – als Bleibe im unruhigen Korrespondentendasein gedacht– wurde für den Freund Bernhard unversehens zum Umschwung. Eine nachhaltige seelische und malerische Entkrampfung fand statt. Einsam im Pinienwald, dem Mistral anheimgegeben, von Sommerfeuern bedroht, aber mit oasenartiger Konzentration auf zeitlose kleine, aber enorm intensive Sinnesfreuden (Sonne, Kräuter, rote Erde, Märkte, nahes Meer) konnte er hier anders inspiriert zwanglos malen. Beim ersten langen Malaufenthalt – unter mehreren – entstanden zwölf neue Bilder. Die Klötze verschwanden.
Stattdessen stellte sich Horizont ein, Hinsehen und Darüberhinaussehen. Das "Paradies", das Wüscher mit seiner jungen Familie hier fand, war eine kreative Herausforderung. Gegenüber liegt die Montagne Sainte-Victoire, der sich Cézanne aus Aix-en-Provence zu Fuss mit der Staffelei manchmal täglich annäherte und damit die Geschichte der neueren Malerei prägte. Van Gogh war auch nicht weit. Diese Kollegen wirkten aber nicht als Belastung, denn alles ergab sich wie von selbst aus der Kulturlandschaft.
Sich hingeben können, nicht im eigenen Innern verharren müssen, das "Sehnsuchtsmässige nach dem Mittelmeerraum" leben und formal verwirklichen wollen, das hat sein Dasein und Schaffen noch jahrelang geprägt.
UM
Kontemplative Kur (Fuveau)
„Die zweite südliche Reise in die Provence [setzt] Zeichen von Reife, Ruhe, Ausgeglichenheit."
"Die Exuberanz von Farben – das dominierende Kadmiumgelb macht wie ein hartnäckiger Mistral nervös, aber im Sinne einer sensiblen Angespanntheit – ist zwar immer noch vorhanden, breitet sich aus, verdrängt alles andere, aber seine Wucht leuchtet mehr nach innen als nach aussen, ist weniger destruktiv, weniger hirnlastig, sondern mehr kontemplativ. Die vertikale Hierarchie weicht einer horizontalen Statik. Die Bilder von Fuveau sind anders strukturiert als die früheren. Zwar finden wir die vertikalen Einbrüche und Abstürze wieder, wenn auch mehr zitathaft jetzt, aber sie sind aufgefangen in einem übergreifenderen Kosmos, in einer Landschaft, die wuchtig und brennend ist, aber zeitweise so transparent wirkt, dass man durch sie hindurch neue Werte zu finden meint."
"Aus einem Aufenthalt in Fuveau wurde eine jährliche schöpferische Kur, eine Lichtkur... Die Gestik mag wild bleiben, Wüscher ist immer noch ein abstrakter Expressionist: die Zitate der Fauves und der Expressionisten belegen dies. Aber das Expressive geht ebenso nach innen, wie es nach aussen jetzt weniger subjektiv, weniger ideologisch, weniger konstruiert ist, als vielmehr universell: ausgewiesen durch die stete Präsenz der vier Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft. Die Gegensätze treffen weiter auf einander, aber bedingen sich jetzt."
UM
(Aus: Bernhard Wüscher / Bilder 1975 – 1989 / Berlin – Mailand – Fuveau. Schaffhausen 1995)
Explosive Kreativität
Die 48 "Köpfe" sind Gesichter, en face Darstellungen: Vorstellungsbildnisse, interessant als Einzelstücke und als integrierende Bestandteile einer Reihe, die eine Tendenz sichtbar macht. Wir sehen die Serie, die Kette. Ein kinetisches Prinzip im Zeitalter des Fernsehens. Spontaneität im Sinne direkter Gefühlsäusserung und gesteigerter Farbigkeit. Die Portraits sind nicht mehr Akt der Erbauung, sondern Resultat des elementaren Erlebnisses. Die primäre Wirkung geht von der Farbigkeit aus.
Ins Auge fallen ein weissliches Gelb, Grün, Vulkanrot oder Violett - alles heftige, intensive Farben, meist ohne mildernde Zwischentöne unmittelbar nebeneinander. Selten verbreiten sie eine koloristisch-heitere Atmosphäre. Dicht an dicht, in glatt zugestrichenen Flächen aufgetragen, wirken sie eher schwer. Bei aller Gross- und Freizügigkeit in der farbig-malerischen Gestaltung hält sich der Künstler doch bewusst vor der reinen Abstraktion zurück: alles andere als unverbindlich. Die „Köpfe“ nehmen Stellung, sind aggressiv, leidenschaftlich, schwermütig und feinsinnig, sie suchen das Elementare.
Der Mensch unserer Zeit, Kultur und "Zivilisation" interessiert Bernhard Wüscher vordringlich. Aufreizend, faszinierend und zugleich gefährlich, voll hektischer Nervosität und Künstlichkeit sieht und schildert er in den Vorstellungsbildnissen das Leben. Nicht die naiv-unverstellte Lebensfreude zieht ihn an, sondern das Angsterfüllte, das in Abwehr unbekannter Kräfte Erstarrte, das Maskenhafte empfindet er verwandt.
Dr. Daisy Sigerist
Fuveau reist nach New York
Bümp ist sesshaft geworden. Auslandaufenthalte beschränken sich nun auf Wochen und dauern nicht mehr Monate oder Jahre. Er hat sein Nomadendasein aus Überzeugung aufgegeben; er fühlt sich deshalb nicht eingeschränkt oder gar beengt. Und seine Bilder? Können auch Bilder sesshaft werden?
Diese Frage diskutieren Bernhard und ich während eines Nachtgesprächs, bis die ersten Vögel pfeifen. Schnell wird klar, Bilder haben keinen Wohnsitz. Das geistige Produkt eines Künstlers braucht Öffentlichkeit, will die ganze Welt einnehmen.
Wir belassen es nicht bei dieser Erkenntnis. Pläne werden geschmiedet – wir küren New York als erste Station für eine Ausstellung.
Die New Yorker Kunstszene empfängt keinen mit offenen Armen, der dort ohne Beziehungen ist. Wer aber, wie meine Werbetouren durch die Galerien Manhattans zeigen, eigenständige, kraftvolle Werke vorzeigen kann, wird unvoreingenommen geprüft. So gelingt es mir, eine Galerie in der Nähe der Carnegie Hall für Wüschers Werke zu interessieren. Die Ausstellung ist erfolgreich. Zwei New Yorker Kunstzeitschriften widmen dem Newcomer aus der Schweiz einen Artikel, ein Fuveau-Bild erscheint sogar auf der Titelseite. Mehrere Bilder bleiben in den USA.
Warum haben die kunstverwöhnten New Yorker Wüschers Malerei so spontan akzeptiert? Die Galeristin bringt es auf den Punkt: “Diese Bilder sind ehrlich, sie folgen keinem Trend und sie verleihen Kraft und Stabilität – genau dies suchen die modegeplagten Menschen im chaotischen New York“.
Markus Gnädinger
Wüscher in London
Durch den New Yorker Erfolg ermutigt, beschließen Bernhard Wüscher und ich, in London auszustellen. Auch hier fehlt ein hilfreiches Beziehungsnetz, allein die Bilder müssen sprechen.
Warnende Stimmen sind zahlreich. London sei konservativ, heisst es, nur tote Künstler seien dort erfolgreich. Doch Wagemut beseitigt Vorurteile. Überraschend schnell findet sich ein Galerist an zentraler Lage, der das Ausstellungsrisiko mit einem Künstler vom Kontinent eingehen will.
„Die Londoner werden Wüschers Bilder lieben“ prophezeit er. Nach drei Wochen ist die Hälfte aller Exponate verkauft. Weitere Bilder müssen nachgeliefert werden, weil der umtriebige Inhaber der Sweet Waters Galery Wüschers Werke auch an der Miami Art Fair in Florida zeigen will. Auch diese Ausstellung stößt auf reges Interesse.
Die Exkursionen in ferne Städte, ins Unbekannte, zeigen, dass Wüschers Bilder eine Sprache sprechen, die überall verstanden wird. Wer aus dem Innersten schöpft, hat nirgendwo Verständigungsschwierigkeiten.
Markus Gnädinger
Embarras de richesse
Vier Jahrzehnte freundschaftlicher Umgang: Ein embarras de richesse an Erinnerung. Dabei hat er fast ausschliesslich am Tisch des Schaffhauser Ateliers stattgefunden. Des Malers Auslandaufenthalte sind da nurmehr Erzählung, belegt von den sich rundherum ausbreitenden Ablagerungen künstlerischer Arbeit.
Die Gespräche, die sich an diesem Tisch zu entwickeln pflegen, beginnen jeweils mit der Rumination des Alltagsgeschehens und führen dann gelassener oder angriffiger, mit Augenzwinkern oder bitterem Ernst zu jenen zwei oder drei Themen, die bereits Jahrzehnte lang der Belagerung standgehalten haben: Es sind dies die Herkunft und was wir daraus oder sie aus uns gemacht hat, das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld und welchen Gefallen es an uns findet und schliesslich ganz besonders, wie das alles mit dem Laster künstlerischen Wollens zu vereinbaren wäre.
Ein Diskurs in der Enge sozusagen, mithin über das Provinzielle, diesem Schreckgespenst für den Kleinmut in uns. Obschon wir doch alle so viel und so weit gereist sind, vermag uns die Vorstellung vermisster Weltläufigkeit, wenn auch nicht mehr so glaubenstoll wie in jungen Jahren, aber in genügend steilen Ausläufern, noch immer zu beunruhigen. Dann wird des Malers ereignisvolles Leben Hintergrund und Stachel zugleich für die unentwegte Frage nach den Beweggründen, Inhalten und Formen künstlerischer Existenz.
Dieser Gespräche Unabschliessbarkeit aber wird bei der langbewährten Gastfreundschaft zur Wohltat.
Erich Brändle
Provenzalische Felder
Die gelben menschenleeren "Landschaften", die dann auch zu blauen wurden, sind in Fuveau gegeben worden, so wie auch die Horizontlinien oben und unten im Bild, grenzende Ränder sozusagen, unterbrochen oder in Frage gestellt manchmal von wenigen konkreten Anspielungen. Zwischenhinein und später war dann wieder eine Wende ins Konkretere möglich und nötig.
Das Gelbe ergab sich abstrahiert aus den provenzalischen Feldern – vielleicht ein malerisches Glück, dass er damals das verdächtige Lavendelblau nicht gleich entdeckte. Aber Hitze, Sonnensymbolik und auch Van-Gogh-Zitate zwangen zu extremen Gelbübermalungen. Dabei waren alle diese Epochen-Bilder wegen Erde und Feuer letztlich bordeauxrot grundiert.
Horizont (vom Meer, vom Himmel, einer leichten Halde vor dem "cabanon" mit zerzausten Pinien, die den Horizont verletzten/überwanden) und eine extreme Farbe blieben lange eine Erfahrung, die zur Chiffre wurde. Sie gewann ein Eigenleben. Ein Horizont ist ja sowohl endlich als auch unendlich. Er hebt sich auf.
Der Horizont ist dann im Atelier in Schaffhausen deshalb als Ordnungselement fast verschwunden und die Farbflächen sind mit Glasur- und Lasurtechniken durchsichtiger geworden. Das Erlebnis der Entfernung, der Distanzierung (im Gegensatz zur Lebenssuche und –aussetzung in Berlin) wurde sozusagen vergeistigt. Diese neue Gültigkeit fand Anspruch.
UM
Einklänge – Ausfälle im Belair
Die Marmorklötze füllten sich im Belair mit Landschaft – eine neue Variation in Richtung Selbstbefreiung von Altlasten. Schwarz wich der Farbe. Aber die Natur ist noch im Stein eingesperrt, also nicht befreit, der Horizont noch der festgefügten Hierarchie geopfert. Nur gleichen die Kanten jetzt eher Linien für formalen Halt. Der Kubus wird flach. Dem eigenen Temperament stehen jetzt grosszügig kontroverse Farben zur Verfügung. Und der Maler geniert sich nicht. Er kündigt uns an, dass er sich der freien Fläche öffnen will, auch wenn er noch lange an geometrischen Zitaten festhalten wird. Die Suche nach dem Eigenen erhält im "Belair" einen neuen Anstoss. Vor allem öffnen sich plötzlich viele Möglichkeiten, die erprobt sein wollen.
Es sind auch die Lebensjahre, in denen Entscheidungen buchstäblich für das Leben fallen – das Familienleben zum Beispiel - und die man dann wieder mit dem Malen in Einklang bringen muss – oder umgekehrt.
Schaffenskrisen letztlich wenige oder nur kurzfristige; schöpferische Zweifel zuhauf, kühne stilistische Regressionen manchmal, aber nie mit formalem Nachlassen, neue Aufbrüche immer mit dem Erproben aller Malsujets (sehr abstrakte oder zu konkrete Landschaften, unnachsichtige Portraits, Stilleben, unzimperliche serielle Kompositionen und schliesslich auch Gelegenheits- und Auftragswerke). Das Sesshaftwerden im "Belair" zwang zu Anpassungen, Aufbrüchen und Ausfällen, aber unterlag stets einem kategorischen Imperativ: Sich selbst nicht untreu werden.
UM
Gelbe Landschaften aus der Stille des Ateliers
Es ist an sich schon ein merkwürdiges Phänomen, wenn ein Künstler wie Bernhard Wüscher, der in Berlin, New York, London, Prag oder Miami ausstellt, die meiste Zeit mitten in der Schaffhauser Altstadt verbringt und als Schaffhauser beinahe wie ein Fremder im Zentrum seiner Heimatstadt lebt.
Dass aber in der Stille dieses Schaffhauser Ateliers an der Krummgasse die gelben Landschaften entstanden sind, ist doppelt überraschend. Was als Resultat einer impressionistischen Plein-air-Malerei wirkt, ist eine im Kopf – oder noch besser: im Bauch – frei komponierte Zusammenschau vieler einzelner Beobachtungen, die diese Bilder von unheimlicher Dichte entstehen liessen.
Der beherrschende Vordergrund mag als Ährenfeld, Felderlandschaft oder Wüste erscheinen, fast immer ist er auf einen fernen Horizont hin komponiert, an dem sich oft das Meer zu brechen scheint. Nahtlos gehen Erinnerungen an Fuveau (Südfrankreich) und die endlose Wüste Atacama (Chile) in einander über.
Oft nicht sichtbar, aber nach der weltläufigen Erfahrung des Künstlers gelangt jede Landschaft letztlich zum Meer. Es braucht allerdings die Erinnerung an und die Sehnsucht nach der Ferne, es braucht die Vision und die Kraft des Durchhaltens, um ans Meer, ans Ziel zu kommen.
Dies dürfte das Geheimnis sein, warum uns die gelben Landschaften so vereinnahmen: Wir sehen darin die uns beherrschende pralle Vordergründigkeit und unsere Sehnsucht nach der Ferne gespiegelt; wenigstens in den Bildern gelangen wir ans Ziel.
EJ
Karibischer Himmel
Nach zwei Jahren Kampf gegen ein Schleudertrauma riet mir ein Arzt, in warmem Wasser zu schnorcheln um den Nacken zu kurieren. Durch Vermittlung eines Freundes konnten wir für drei Wochen ein prächtiges Haus direkt am Meer in Turks und Caicos bewohnen.
Schon vom Eingang her sah man durch eine Mauerlücke das ganze Panorama: Meer und Himmel, soweit das Auge reichte. Je nach Tageszeit wechselten die Farben in einem unglaublichen Spektrum von Blautönen.
Richtig spannend wurde es aber, wenn sich ein Gewitter zusammenbraute und wilde Blitze durch die Wetterküche zogen. Die Wolkentürme schoben sich vielfältig über- und nebeneinander. Stücke brachen ab und wurden durch bizarre neue Formen ersetzt. Manchmal schien der Himmel flüssig zu werden und ein breiter Strahl ergoss sich von zuoberst nach unten.
„Das sieht ja aus wie auf deinen Bildern,“ meinte ich zu Bernhard. „Ja, das hat eben der liebe Gott bei mir abgeschaut.“
Simone Wüscher-Ineichen
Mein Vater
Meinen Vater und mich trennen 40 Jahre, dennoch sind wir beide an einem ähnlichen Punkt im Leben. Für mich hört das Kindsein nun definitiv auf, ich muss mich in der Welt beweisen und meinen eigenen Weg finden. Mein Vater hat längst bewiesen, welchen Platz er im Leben und in der Kunst einnimmt, doch auch er muss wohl an diesem Punkt nochmals seinen eigenen Weg finden, denn er wird sich bestimmt nicht mit 65 zur Ruhe setzen. Im Gegenteil, die physische und schöpferische Kraft und der Wille, Künstler zu sein, sind noch voll und ganz vorhanden.
Nur, wohin geht es jetzt, kommt noch etwas Neues oder wird Altes aufgearbeitet? Wie ich meinen Vater kenne, glaube ich, dass durchaus Neues kommen wird, Unerwartetes, Spannendes. Doch, und darüber haben wir oft gesprochen, es braucht einen zündenden Funken, eine Art Schub, der die neue Ära einleitet. Immer schon waren es Ereignisse, Orte, Landschaften oder besondere Menschen, die eine solche Initialzündung ausgelöst und eine neue Schaffensperiode eingeleitet haben.
So waren beispielsweise die Aufenthalte in Fuveau, die auch ich in schöner Erinnerung habe, immer Quell für neue Bilder. Ein entscheidendes Ereignis aber auch meine Geburt. In den Bildern von damals spürt man Überraschung und Unsicherheit durch die neue Situation, aber auch das feine Würzelchen der Zusammengehörigkeit und Liebe. Dieses Würzelchen ist in den letzten 20 Jahren zu einem Baum gewachsen.
Jetzt stehen wieder neue Verzweigungen und Verästelungen an, es wird spannend sein zu sehen, wohin sie wachsen.
Kathrin Wüscher
Berlin-Weichselplatz: Frauenbilder
Nach mehreren Mal- und Ehejahren im Belair drängt sich 1994 ein Malaufenthalt in Berlin auf. Peter Decker stellt in seiner Druckfirma am Weichselplatz eine Wohnung zur Verfügung, doch dem Ankommenden drängt die Malarbeit nicht so sehr.
Abends beim Bier. Wenn du malen würdest, was würdest du malen? fragt Peter. Bümp: Frauen! Peter: Und wie würdest du die Frauen malen? Das lang entbehrte Gespräch wird immer intensiver. Anderntags: Falls du malen würdest: sieh mal diese grossen Pappen. Damit sind grosse Kodak-Verpackkartons aus der Druckerei gemeint. Aber eben, dem Künstler eilt es doch gar nicht. Zwar wird schon einmal eine Pappe an die Wand geklebt, einige Farben leicht ausprobiert ...
Was folgt, ist für alle und Bernhard Wüscher selbst eine Überraschung: Zuerst entsteht bereits am zweiten Tag die Figur in Orange/Rot/Schwarz. Dann folgt ein zweites Frauenbild. Und dann im präzisen Tagesrhythmus ein Bild nach dem andern, bis der Künstler nach 45 Bildern erschöpft und ausgelaugt von Berlin heimreist.
Ist er überhaupt je richtig in Berlin angekommen? Doch: es gibt da immerhin die Aidskranke, während eines Velobummels durch Berliner Quartiere beobachtet. Meist entsteigen die Figuren aber der ureigenen Vorstellung. Den Torsi fehlen oft Arme und Hände. Nicht selten spiegeln sie Simone im fernen Schaffhausen, manchmal wird es mit Kathrin eine höchst intime Familien-Konstruktion, sorgsam austariert mit grafischen Elementen.
Im Belair ist die Fortsetzung geplant, doch es gelingt keine einzige Figur mehr.
EJ
Brief aus Berlin
"Nun ist der Rummel momentan verstummt und die stille Arbeit geht weiter. Das ist es, was ich mir wünsche: Ab und zu aus der Isolation auftauchen, den Leuten was bieten, ein bisschen die Schulter geklopft bekommen und wieder verschwinden und weitermalen. Dieser Wechsel ist mein Lebenselixier."
"Manchmal denke ich, dass ich sehr privilegiert bin mit meiner Nutzung der Zeit, mit den Abwechslungen (nicht mit Urlaub zu verwechseln), mit meiner Arbeit, die immer mehr Leuten Freude macht, ohne dass ich mich publikumsmässig verhalte oder verhalten muss."
(Auszug aus einem Brief von Bernhard Wüscher an Ulrich Meister in Madrid. Berlin, 12. September 2000)
Unser erster Wüscher
Der gelbe Katalog war es, der unser Interesse und die Lust auf mehr weckte. Ich glaube, es war 1991, als wir uns entschlossen, etwas genauer hinzuschauen. Die Ladies kannten sich schon und knüpften den Kontakt. Samstag um halb elf also, im Atelier an der Krummgasse. Ineluege kann man ja mal, man bewegt sich ja nicht täglich in Ateliers, allein schon das dürfte ganz interessant werden. Um zwölf sind wir wieder zurück.
Und wie interessant es wurde! Zunächst einmal bewirteten uns Simone und Bernhard fürstlich, und wir kamen aus dem Staunen ob der vielen wunderschönen Bilder nicht heraus. Wir erlebten einen höchst amüsanten und anregenden Nachmittag,, denn wir merkten bald, dieser Wüscher ist kein weltferner verschrobener Künstler mit kurligen Ansichten. Im Gegenteil, er argumentierte sehr bodenständig, hatte offensichtlich schon Einiges erlebt und noch mehr darüber nachgedacht.
Als das Lager an der Krummgasse ausgeschossen war, wechselten wir unter Mitnahme der schönsten Bilder ins Belair an die Randenstrasse, wo wir die Session am langen, langen Tisch fortsetzten und wo wir auch zum Nachtessen blieben, derweil wir nohdisnoh ein Bild auswählten. Schliesslich nahmen wir spät abends zwei zur Auswahl mit, und waren – fast wie geplant – um zwölf wieder zurück.
Unser Wüscher wurde natürlich ein paar Tage später bei einem Glas Wein von Wüscher selber gehängt und freut uns heute noch sehr. Wir sind sicher, die Wärme, die er ausstrahlt, hat etwas mit seiner Geschichte zu tun.
Karin und Erwin Beyeler
Bilderverkauf: Zum Beispiel IGE in Bern
Das Eidgenössische Institut für geistiges Eigentum IGE bezieht neue Gebäude an der Einsteinstrasse 2 in Bern. Für „Kunst am Bau“ steht eine Summe von 40 000 Franken zur Verfügung. Die Mitarbeiter werden eingeladen, sich nach passenden Elementen zur Belebung der grosszügigen Räume umzusehen. Ein Bekannter eines Verwandten von Bernhard Wüscher erinnert sich an Wüschers Werke, die ihm imponiert haben, also telefoniert er nach Schaffhausen und bittet um Unterlagen: „Wir sind am Evaluieren, versprechen kann ich natürlich noch gar nichts...“
Wüschers Kunstkataloge erreichen das IGE in Bern. Was könnte sonst die Kunstprodukte legitimieren, das Werk und die Person dokumentieren? So kommt oft – durch viel Zufall – der Stein ins Rollen. Eine Berner Delegation kommt ins Atelier an der Krummgasse in Schaffhausen. Staunen ob der Fülle der Bilder und Farben. Jetzt muss auch noch die Chemie stimmen, der Künstler und seine geistige Welt muss ebenso überzeugen wie das Werk. Auch im Kunstmarkt herrscht ein harter Wettbewerb.
Zuletzt bleiben eine Mitkonkurrentin und Bernhard Wüscher im Rennen. Fahrt nach Bern mit einer Bilderauswahl. Probehängen: Was passt wo? Korrespondieren Raum und Bild? Verträgt sich die Kunstwelt eines Bernhard Wüscher überhaupt mit der Patentwelt des Institutes für geistiges Eigentum?
Irgendwann die grosse Eröffnung. Bernhard Wüschers Bilder hängen, der Künstler wird vorgestellt. Applaus. Händeschütteln. Freude herrscht.
Längst sind Bernhard Wüschers Bilder ein Teil der Raumgestaltung des IGE.
EJ
Visionäre Urlandschaften
Die kräftig-goldgelben Felder haben den Horizont immer weiter nach oben gedrängt, die pralle Vordergründigkeit verschob die schmale Zukunft immer weiter nach hinten. Dass sie als Reaktion auf die Zeit der Gelbherrschaft dennoch anbrechen musste, war unausweichlich. Nach einigen Werken in der Komplementärfarbe Blau entstanden moosgrüne Urlandschaften mit grauschwärzlichem Himmel, nicht vordergründig strahlend, dafür tiefgründig schön.
Erneut tritt im Werk Wüschers damit eine abrupte Wende und eine Befreiung von einem Thema ein, das ausgereizt erschien. Der streng horizontbeherrschte Aufbau und die südländischen, satten Farben weichen herbstlichen Tönen des Nordens, die Senkrechte ist wieder zu finden und deutet Wurzelsuche an: Woher kommen wir? Wohin geht die Reise?
Wie bei Turner erleben wir die gedämpfte Landschaft vor allem als starke Stimmung. Die menschenleere Öde wirkt wie eine vor- oder nachzivilisatorische Gegend. Es ist die Vision einer harmonischen Urheimat ohne lärmige Betonstädte, grelle Leuchtreklamen, überbordendem Weltverkehr und infantilem Disneyland.
Reine Malerei ohne gewollten Gegenwartsbezug. Und doch: es fällt schwer, in „Turner in New York“ die im gleichen Jahr in sich zusammengesunkenen WTC-Türme nicht zu erkennen, die sich durch unendliche Wiederholung am Bildschirm einer ganzen Generation unauslöschlich einprägten.
Turnersche Melancholie angesichts dem Zusammenbruch einer stabil geglaubten Welt. Urlandschaft nach dem 9. September 2001.
EJ
Randenbilder
Sind das wirklich Bilder vom Randen? Der Versuch, ein Randengemälde Wüschers in der bekannten Schaffhauser Berglandschaft zu verorten, schlägt fehl. Wir haben es weder mit dem Ausblick vom Hagen noch mit der Waldpartie beim Talisbänkli zu tun. Und doch werden alle Schaffhauser beim Betrachten der Randenbilder unmittelbar so etwas wie heimatliche Gefühle empfinden – jedenfalls jene, welche die Farben und Formen der gemeinten Landschaft in sich tragen. Aber eben: es sind gemeinte Landschaften, nicht abgemalte.
Bernhard Wüscher hat diese Landschaft seit frühester Kindheit im wahrsten Wortsinn verinnerlicht. Auf dem Randenhorn besitzt die weit verzweigte Familie die „Klarahütte“, sie ist das Refugium für alle Aussteiger auf Zeit, für die temporären Stadt- und Zivilisationsflüchtigen, die wir letztlich alle sind. Hier oben hat Bernhard Wüscher die Waldeinsamkeit erlebt und starke Wurzeln in die Natur der Juralandschaft geschlagen. Das hat ihm u.a. ermöglicht, die Grossstadt zu ertragen. Rückzug hierher auf den Randen war sein ganzes Leben lang möglich, und er ist auch immer wieder erfolgt, obwohl das im bildnerischen Werk erst spät ablesbar wird.
Ein Grund dafür ist, dass Ort und Thema „Randen“ lange vom Schaffhauser Maler Albert Schachenmann (1916–1996) besetzt war. Der knorrige Einsiedler wirkte und malte in seinem Randenhaus auf „Tigenacker“ so souverän, dass es keinem Schaffhauser Künstler während dessen Lebenszeit eingefallen wäre, ein Randenbild zu malen oder ein Gemälde als Randenbild zu bezeichnen.
EJ
Verzicht ?
Januar 2004, Bernhard Wüscher begleitet Kathrin zu ihrem Weiterbildungsaufenthalt nach Berlin und trifft mit ihr seine nicht mehr ganz jungen Künstlerkollegen von damals. Sie sitzen im Café und tauschen „Weißt du noch...“ ihre Erinnerungen aus. Kathrin sitzt dabei, hört zu, macht sich so ihre eigenen Gedanken zum Vater, den sie ja bisher eigentlich nur in der Schaffhauser Umgebung erlebt hat.
Später am Tag Kathrins nüchterne Erkenntnis: „Du hast für uns aber auf vieles verzichtet.“ Trotz früherer intensiver Gespräche mit dem Malervater erlebt sie in Berlin, dass es da noch ein anderes Leben von Bernhard Wüscher gab und gibt. Ein Leben vor der Familie, ein Leben neben der Familie, ein Leben ausserhalb der Familie. Hat Bernhard Wüscher auf etwas verzichtet? Ist etwas verloren, verschüttet? Oder eher: verwahrt und geschützt?
Ein beengter Kleinbürger ist Bernhard nicht geworden. Der späte und langsam reifende Entscheid für die Familie hat sein Leben in geordnete Bahnen gelenkt, hat ihn ein Stück weit vom pulsierenden Grossstadtleben und vom exaltiertem Künstlerleben abgezogen. Sicher. Aber bei all dem Beengenden, das eine Ehe und Familie vor allem für Künstler an sich haben kann: So hat er es nicht erlebt. Er spricht von einer Ehe mit viel Freiheit, mit viel gegenseitigem Vertrauen. Basis für die Weiterentwicklung von zwei Erwachsenen, einem Rahmen für das aufwachsende Kind, das nun den Vater in Berlin plötzlich ganz neu entdeckt.
EJ
Diese Mappe: Ein Werk der Freundschaft
Vieles entsteht aus Zufall. Jedenfalls: Es war am Silvester 2001, als der Verleger und Unternehmer Wendel Oberli den Kunstmaler Bernhard Wüscher kennen lernte. Bei Wendel wuchs aus der spontanen Sympathie der Gedanke, den 60. Geburtstag von Bernhard Wüscher am 8. August 2004 durch die Herausgabe einer Kunstedition zu würdigen. Aus der Idee und der Bereitschaft, persönlich Hand anzulegen, ergab sich eine lockere Zusammenarbeit im Freundeskreis um Bernhard Wüscher, um der Idee zum Durchbruch zu verhelfen. Wendel Oberli zeichnet für Idee, Druck und Edition, Manfred Dubach ist verantwortlich für Fotografie und Druckvorstufe. Ulrich Meister und Eduard Joos besorgten die Texte. Weitere Freunde verfassten Würdigungen, die den Selbstportraits von Bernhard Wüscher beigesellt sind. So wuchs aus dem Gedanken ein gemeinsames Werk der Freundschaft.
Die Kunstmappe zum 60. Geburtstag von Bernhard Wüscher erscheinend in einer Auflage von 60 Exemplaren und umfasst 60 Werke. Nur wenige Insider kennen das ganze Werk des Künstlers, fast alle werden Neues und Unbekanntes, Überraschendes in diesen Blättern finden. Die Bildthemen varieren so stark wie die Formen und Farben, Kultur- und Sozialkritisches reiht sich ein zwischen Privates, ersonnene Landschaften wechseln mit abstrakten Farbspielen.
Unser Ziel war, dem Kunstmaler Bernhard Wüscher einen würdigen Rahmen für sein bisheriges Lebenswerk zu schenken und den KunstliebhaberInnen eine Retrospektive zu bieten, die nachhaltiger wirkt als eine Ausstellung allein.
EJ